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Wer ist ideologisch? Natürlich die anderen! Oder etwa nicht?

Wenn bei einem Interview, bei einer Rede das Wort „ideologisch“ fällt, dann wissen wir, die ideologische Gegenseite hat nicht alle Tassen im Schrank, ihr fehlt doch der gesunde Menschenverstand. Und ich, der den Vorwurf erhebe, stehe mit beiden Beinen auf dem Boden der Tatsachen. Also der Vorwurf, die andere Seite ist Ideologisch, darf sich des Beifalls der braven Bevölkerung sicher sein.

Oder ist es vielleicht doch ein Argument, das boshaft eingesetzt wird und mit dem bewusst unter die Gürtellinie geschlagen wird?

Ich will hier nicht Politiker wie z. B. Dobrindt zitieren, sondern eher zufällig Uwe Hochgeschurtz, seit Juni 2022 Europa-Chef des Auto-Riesen, den die Mainpost  interviewt hat (8.9.23). Man weiß nicht so recht, ob es hier um Zollpolitik gehen soll, dafür gibt der Uwe Hochgeschurtz zugleich heftige Seitenhiebe auf die Regierung ab, die er jeweils mit dem Begriff „ideologisch“ anreichert:

Zitat 1: „Mit Atomstrom würde man in Deutschland den CO 2 -Ausstoß signifikant verringern. Leider ist das Thema ideologisch diskutiert worden.“

Zitat 2: „Und dann fällt der CO 2 -Ausstoß in Deutschland auch noch höher als in Ländern aus, in denen Strom billiger ist, weil er ideologiefrei hergestellt ist.“

Die Stoßrichtung ist klar, es sind die aktuelle Regierung und die Grünen, die „ideologisch“ sind, und natürlich andere Länder, er meint Nachbarländer, z.B. Frankreich oder  England, wo Atomstrom offenbar „ideologiefrei“ ist.

Ich möchte hier zunächst nicht auf die Arroganz dieser Argumentation eingehen, sondern prüfen, was mit „ideologisch“ gemeint sein könnte.

  1. Notwendigerweise deuten wir die Welt und treffen Entscheidungen auf der Basis unvollständigen Wissens. Denn es ist der Wissensstand im Jahr 2023, der 100 Jahre später mit vielen neuen Informationen angereichert sein wird. Von daher beruhen alle unsere Haltungen und Einstellungen auf unvollständigem heutigem Wissen und unseren heutigen Wertvorstellungen. Wir sind im Denken stets Kinder unserer Zeit. Philosophen haben das als „notwendige Ideologie“ bezeichnet, die wir alle, auch Herr Hochgeschurtz teilen.
  2. Herr Hochgeschurtz – und gleich ihm viele andere – benutzt diesen Begriff aber anders: In seiner Argumentation ist Atomenergie etwas, dass keine ernsthaften Probleme mit sich bringt, die unsere Technik nicht im Griff haben.Hinter seinen Aussagen stehen also Wertungen, die er für selbstverständlich hält, etwa das die meisten Probleme technisch beherrschbar sind. Meine Bedenken dagegen z.B. erscheinen ihm – so vermute ich – als ideologisch, nämlich die Frage, ob wir wirklich für eine Million Jahre Atommüll sicher verwahren können, oder ob Staat und Gesellschaft für  eine Million Jahre stabil sein werden, um mit dieser Last sinnvoll umzugehen. Auch finanziell liefern die aktuell gebauten Atomreaktoren in England oder Finnland – wenn man die Kostensteigerungen beim Bau ansieht –  keinen billigen Strom. Und den Schaden, den ein im Krieg oder Erdbeben zerstörtes Atomkraftwerk oder Zwischenlager erzeugen, müsste eine sorgfältige Argumentation zumindest als Möglichkeit einbeziehen.Uns sollte bewusst sein, dass die Verwendung des Worts „ideologisch“ hier ein Kampfbegriff ist, der den anderen mundtot machen soll und besonders die eigene Position als unanfechtbar darstellen soll. Die Gegenseite gilt als voreingenommen und deren Argumente will ich im Grunde gar nicht hören, ich weiß ja, dass ich recht habe.Diese Position ist gar nicht so sehr verschieden von Verschwörungstheoretikern, die andere Argumente ebenfalls nicht hören wollen.

Wer ernsthaft argumentieren will, sollte das Wort vermeiden und dafür Sachargumente liefern. So würde mich brennend interessieren, wie sicher in einem Krieg Atomkraftwerke und Zwischenlager sind. Und wenn nicht, mit welchen Folgen die Menschen zu rechnen haben. So würde mich interessieren, wie genau die Kostenlage bei der Herstellung von Atomkraftwerken ist und welche Kosten ein Endlager tatsächlich mit sich bringen wird. Mich würde interessieren, warum laut Söder in Bayern kein Endlager möglich sein soll, zugleich aber Teile der CDU und CSU eine Rückkehr zur Atomenergie ins Auge fassen. Und ich habe noch viele weitere Fragen zu diesem Thema.

Ich wünsche mir eine faire Diskussion, wo man sich der eigenen Ideologie bewusst ist und den andern nicht abwertet.

Gerhard von Hinten

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